Disclaimer: in den Polizeiakten und dementsprechend auch in der Studie der TU werden Personen mehrfach als Skinheads beschrieben beziehungsweise dieser Subkultur zugeordnet. Die fehlende politische Einordnung dieser Menschen sowie die fragwürdige Kategorisierung der (gesamten) Skinheadbewegung im extrem rechten Spektrum machen eine Einordnung dieses Falles schwierig. Wir halten dieses Gedenken unabhängig davon für wichtig, da wir in den Motiven dieses Mordes klar auch die faschistische Ideologie der Täter sehen. Deren Namen sind leider bislang anonymisiert.

Person

Über Klaus-Dieter Reichert wissen wir leider nur wenig. Er wird 1966 in einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern geboren und ist zum Zeitpunkt der Tat dort auch noch (bei seinen Eltern) polizeilich gemeldet. Er lebt jedoch anscheinend seit einiger Zeit in Berlin, hier wohnt er bei wechselnden Bekannten.
Klaus-Dieter Reichert hält sich regelmäßig in der Lichtenberger Bahnhofsszene auf. Er hat gute Kontakte zu den Skinheads und zählt sich (mindestens zeitweise) auch selbst zu ihnen: eine Tätowierung auf seinem Rücken zeigt einen Skinhead mit erhobener Faust und den Schriftzug „SKINHEADS“. Er hat zum Zeitpunkt der Tat jedoch keine Glatze. Zwei Zeugen ordnen ihn eher der “Penner- und Alkoholikerszene” zu.

Tat

Klaus-Dieter Reichert soll einer Gruppe von Scheckbetrüger:innen Geld geschuldet haben, bei denen er auch einige Monate aktiv gewesen sein soll. Laut deren Aussage löste er von der Gruppe gestohlene Schecks ein und behielt das Geld für sich.
Daraufhin wurden André Bichler und Michael Halsmann darauf angesetzt, die Schulden einzutreiben. Sie bekommen Unterstützung von Werner Münder, dem Reichert ebenfalls Geld geschuldet haben soll.
Als die vier das erste mal aufeinander treffen, gibt Reichert an, das Geld in der Wohnung eines Freundes im 10. OG eines Lichtenberger Plattenbaus deponiert zu haben. Als die Gruppe gemeinsam bei der Wohnung ankommen, warten die Schuldeneintreiber unten. Als Reichert nach 90 Minuten nicht wieder herauskommt, gehen sie wieder.
Am selben Abend treffen sich Bichler und Halsmann in einer „hauptsächlich von Angehörigen der Skinhead-Szene genutzten Wohnung“ (Anklageschrift) wieder. Nach kurzer Zeit erscheint auch Reichert.
Diesmal bricht ein Streit aus. Jochen Riether, der ebenfalls in der Wohnung ist, bekommt den Streit mit und prügelt auf Reichert ein. Bichler und Halsmann sprechen eine Belohnung für denjenigen aus, der das Geld von Reichert besorgen kann.

Am darauffolgenden Abend treffen Riether, Carl Knopper und Helmut Kornmann am Lichtenberger Bahnhof zufällig auf Reichert. Wieder wird das Geld eingefordert. Riether schlägt Reichert erneut, bedroht ihn diesmal sogar mit einer Schusswaffe. Dieser verweist erneut auf die Wohnung des Freundes, woraufhin eine weitere Person namens “Edde” zur Gruppe stößt und gemeinsam mit einem Taxi zur genannten Wohnung gefahren wird. Dort angekommen legen Kornmann, Knopper und “Edde” Vermummung an. Es wird an der Tür geklingelt und geklopft. Als das in der Wohnung befindliche Paar die Tür nicht öffnet, tritt Riether diese ein. In der Wohnung wird Reichert mit einem Baseballschläger bedroht und zur Herausgabe des Geldes aufgefordert. Dieser gibt zu, kein Geld zu haben, woraufhin er von Knopper mit dem Schläger gegen den Kopf geschlagen und im Anschluss von Riether geohrfeigt und gezwungen wird, sein eigenes Blut vom Boden aufzuwischen. Alle Täter schlagen weiter auf Reichert ein. Anschließend geht Kornmann mit Reichert allein in die Küche, um ihn dort weiter zu verprügeln. Dieser erklärt, er könne das Geld bei einem in der Nähe wohnenden Bekannten holen. Doch Kornmann schlägt weiter auf ihn ein.
Riether öffnet ein Fenster und sagt an Reichert gewandt, er solle doch etwas frische Luft schnappen. Reichert fühlt sich, vor dem offenen Fenster stehend, offenbar so in die Enge getrieben, dass er sich rückwarts aus diesem fallen lässt.
Die Täter verlassen sofort die Wohnung, finden Reichert schwer verletzt vor dem Haus liegend und flüchten. Das Paar aus der Wohnung ruft die Polizei.

Staatliche Ermittlungen / Gerichtsverfahren

Jochen Riether wird am 16. Dezember 1990, Carl Knopper am 03. Januar 1991 und Helmut Kornmann am 04. Februar 1991 festgenommen. Der vierte Täter namens “Edde” konnte nicht ermittelt werden.
In einem Tagesspiegel Artikel vom 02. Oktober 1991 heißt es, es gebe jeweils Freiheitsstrafen von 4 Jahren für Riether und Kornmann, Knopper bekam eine Jugendstrafe von 3 Jahren.
“Die Strafkammer sprach die Männer der gemeinschaftlichen Körperverletzung mit Todesfolge sowie der Nötigung für schuldig.”

Mögliche politische Aspekte der Tat hat die Polizei bei den Ermittlungen im Blick. Allerdings ist die Szeneanbindung der Täter und vieler Zeug:innen auch kaum zu übersehen und wird von den vernommenen Personen auch offen angesprochen. In einem “zusammenfassenden Bericht” zum Tötungsdelikt vom 22. März 1991 wird allerdings nicht auf die politischen Bezüge eingegangen, im Mittelpunkt steht die Geldforderung. Dazu heißt es u. a.: “In der entsprechenden Szene soll sogar eine ‘Kopfprämie’ in Höhe von DM 1.000,- für die Beschaffung des Geldes ausgesetzt worden sein.”, wobei durch diese Formulierung nicht klar erkennbar ist, welche Szene gemeint ist. Gemeint sein könnten die Scheckbetrüger:innen, allerdings wurde wurde die Belohnung von diesen in einer Wohnung ausgelobt, die auch in den Unterlagen der Polizei als Skinheadtreffpunkt bekannt ist. Im Ergebnis schätzen Polizei und Staatsanwaltschaft den Fall als nicht-politisch ein, extrem rechte Bezüge werden in der Anklageschrift jedoch erwähnt. Ausgangspunkt ist für die Staatsanwaltschaft die Geldsumme, die Reichert einbehalten hatte.

Täter

Jochen Riether wird 1968 in Frankfurt (Oder) geboren; zum Tatzeitpunkt ist er 22 Jahre alt. Er wächst im Oderbruch auf und ist mehrfach vorbestraft. In den Monaten vor dem Tötungsdelikt ist er arbeitslos, wohnt in Lichtenberg bei „Kameraden“ aus dem Skinheadmilieu. Er finanziert seinen Lebensunterhalt aus Glücksspielgewinnen und gibt sich „im Kreise von rechtsradikalen Jugendlichen dem Alkohol- und Tablettenkonsum hin“ (Anklageschrift).

Carl Knopper wird 1971 in Potsdam geboren; zum Zeitpunkt der Tat ist er 19 Jahre alt. 1988 kommt er nach erneuter Straffälligkeit in das Jugendhaus Halle. Hier gerät erstmals in Kontakt zur Skinhead-Szene. Nach seiner Entlassung im Juli 1990 ist er arbeitslos und hält sich überwiegend in der „rechtsradikalen Szene Berlins“ (Anklageschrift) auf. Knopper lebt zeitweise in dem von Neonazis besetzten Haus in der Weitlingstraße 122. Ende 1990 beteiligt er sich nach der Aussage eines Zeugen an einer Fahrt zum Soldatenfriedhof in Halbe, an der etwa fünfzehn „gleichgesinnte Personen“ teilnahmen. Seine strafrechtlichen Vorbelastungen wurden von der Staatsanwaltschaft (zumindest bis zur Erstellung der Anklageschrift) nicht ermittelt.

Helmut Kornmann wird 1963 in Berlin (West) geboren; am Tag der Tat ist er 27 Jahre alt. Er ist vielfach vorbestraft, mehrere Sachbeschädigungen und (teilweise gefährliche) Körperverletzungen zeugen von seiner Gewaltbereitschaft. Von 1986 bis 1989 wird er vom Amtsgericht Tiergarten in insgesamt vier Fällen wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (in einem Fall zusätzlich wegen Volksverhetzung) verurteilt.

Der vierte Tatbeteiligte kann von der Polizei nicht ermittelt werden. Er ist den anderen Tätern nur unter dem Namen „Edde“ bekannt.

Michael Halsmann und André Bichler gehören zur Scheckbetrüger:innengruppe und sollen das von Reichert unterschlagene Geld eintreiben.

Werner Münder ist ein arbeitsloser Glas- und Gebäudereiniger, nebenberuflich arbeitet er als Versicherungsvertreter. Reichert schuldet ihm Geld.

Reaktionen

Zwischen der juristischen und journalistischen Bewertung des Falles gab es gravierende Unterschiede. Erstere fokussierte sich auf die durch „Gammelei“ und „Alkoholmissbrauch“ verursachte „geistige Verarmung und Verrohung“ (Urteilsspruch zitiert im Tagesspiegel: 02. Oktober 1992) der Täter, wodurch der Fall als nicht-politisch bewertet werden konnte. Hierfür spricht auch das Motiv des Geldeintreibens, was zunächst nicht auf die politischen Gesinnung der Täter schließen lässt. Journalistisch wird der Fall mehrheitlich als politische Tat wahrgenommen. Der Fall findet seinen Weg in verschiedene Listen von Opfern rechter Gewalt. Die Täter werden als „rechtsradikale Skinheads“ (taz: 02. Oktober 1991) benannt. Der Opferfond CURA beschreibt den Fall als exemplarisch für ein Defizit des PMK-Erfassungssystems, da dieses blind sei für Fälle, in denen sowohl Täter als auch Opfer aus dem extrem rechten Milieu stammten. Die Opfer fielen somit durch das Raster der definierten Opferkategorien. „Internen Streitereien oder als Raubüberfälle getarnten Delikten liegt oftmals durchaus ein politisches Motiv zugrunde“. Die Verohung der Täter und die damit verbundene gesunkene Hemmschwelle zur exzessiven Gewalt ist laut CURA nicht allein durch materielle Anreize oder dem Umfeld der Täter zu erklären, sondern vielmehr Ausdruck ihrer extrem rechten Ideologie.

 

Gedenken

Gedenktapete im Fanblock während eines Eishockeyspiels. Darauf steht "Klaus-Dieter Reichert, am 11.12.1990 von Nazis ermordet. Niemand ist vergessen"Das Gedenken an Klaus-Dieter Reichert ist aufgrund der sehr dünnen Informationen, die zu diesem Fall vorliegen, kein einfaches. So ist beispielsweise der Tatort bisher nicht geklärt und somit auch kein Ort, an dem Klaus-Dieter Reichert gedacht werden kann. Dennoch finden seit 2019 vereinzelt Aktionen statt, die an den rechten Mord von 1990 erinnern. So wurde 2019 während einer Aktion bei einem Eishockeyspiel des Eisbären-Frauenteams eine Tapete in Erinnerung an Klaus-Dieter Reichert gezeigt.
Auch 2020 hingen in Lichtenberg wieder Banner anlässlich des 30. Todestages. Damit darüber hinaus ein würdiges Gedenken etabliert werden kann, freuen wir uns über jegliche Informationen über Klaus-Dieter Reichert sowie Kontakt zu Freund:innen und Angehörigen!